1-10. Szene                                                                                                                Im Café Pucher (50-Jahr-Feier der Neuen Freien Presse)

> download Word-Doc

(Anm. Die Schlacht von Lemberg war im August 1914 eine Entscheidungsschlacht zwischen dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn. Lemberg, Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Galizien, wurde von der österreichischen Armee am 1. September 1914 vor den anrückenden russischen Truppen geräumt.)

Zahlkellner Eduard, der alte Biach (Symbol für eine von der Presse verblödete Menschheit, Prototyp des Zeitungslesers und die Fleisch gewordene Phrase der Leitartikel der Neuen Freien Presse auf zwei Beinen), die Andern, der kaiserliche Rat, Doktor, Kompagnon, Kurzwarenhändler, Ministerpräsident Karl Reichsgraf von Stürgkh / die Minister, Kellner Franz, fünf eintretende Gäste, Minister des Innern Karl Freiherr von Udynski, Weitere Gäste

Die Minister sind versammelt.

Eduard (zu Franz): Es fehlt noch die Muskete, der Floh und das Intressante (Blatt) –

(Fünf Eintretende nehmen am Nebentisch Platz. Der Ministerpräsident Karl Reichsgraf von Stürgkh wendet sich an den Minister des Innern, Karl Freiherr von Udynski.)

Der alte Biach: So wahr ich da leb, er hat etwas von einer Bombe gesagt –

Eduard (bringt illustrierte Blätter): Bitt schön Exlenz is die Bombe schon frei?

Der alte Biach: Ah so – (die Illustrierte)

Die Andern (durcheinander): Was hat er gesagt?

Der alte Biach: Nix – ich hab mich geirrt.

Der kaiserliche Rat (zu seinem Nachbar): Intressant steht heut im Tagblatt –

(Der Kellner Franz ist an den Tisch getreten.)

Rufe: (nacheinander): Mir einen Doppelschlag! Mir mit Haut und mehr licht! Obersgspritzt und das 6-Uhr-Blatt! Einen Capo (Cappucino) passiert!

Der kaiserliche Rat: Und mir eine Melange, oder nein, wissen Sie was, bringen Sie mir zur Abwechslung eine (Schale) Nuß Gold und die (Neue Freie) Presse!

Der alte Biach (die Neue Freie Presse zur Hand nehmend): Großartig – (da, in der Presse)!

Alle: Was denn?

Der alte Biach: Sehn Sie, das imponiert mir, jetzt feiert er (der Benedikt) schon seit vierzehn Tagen das fufzigjährige Jubiläum (von seiner Zeitung), immer an erster Stelle, dann (erst) kommt die Schlacht bei Lemberg mit den Eindrücken. Da sieht man doch wenigstens, es gibt auch noch freudige Ereignisse in Österreich! Und schließlich is es ja ein Ereignis wie es noch nicht da war. Das Bollwerk deutschfreiheitlicher Gesinnung, Gesittung und Bildung, Kleinigkeit, was da für Namen gratulieren – schauts euch bitt euch nur an – sss – warts – drei, vier, nein, fünf volle Seiten. Alles wetteifert ihr (ihm zu seiner Zeitung) zu gratulieren, die höchsten Spitzen genieren sach nicht.

Der kaiserliche Rat: Heut habe ich (ihm) geschrieben – passen Sie auf, morgen wird es stehn!

Der alte Biach (erregt): Wenn Sie (ihm) geschrieben haben, wer' ich (ihm) auch schreiben. Keine kleine Ehre, in solcher Umgebung –

Der Doktor: Komisch ist nur, fällt mir auf – überall, bei den Tausenden und Abertausenden von Gratulationen, überall druckt er die Adresse mit: »Seiner Hochwohlgeboren Herrn Moritz Benedikt, Herausgeber der Neuen Freien Presse, Wien I Fichtegasse 11«. Ich kann mir nicht helfen – das is etwas eitel! Das Hochwohlgeboren könnt er sich schenken, und die Adresse genügt schließlich auch zwanzigmal.

Der Kompagnon: Sagen Sie das nicht. Das kann man nicht oft genug hören.

Der kaiserliche Rat (fast gleichzeitig): Das seh ich nicht ein, er will gar nichts ändern – so haben sie geschrieben, so soll es stehn, recht hat er!

Der alte Biach: Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?

Der Kompagnon (begütigend): Aber – nix – Noch is Lemberg in unserem Besitz.

Der Kurzwarenhändler: Vor allem sieht man doch, daß alle Zuschriften echt sind, schaun Sie her, Kleinigkeit, (Graf von) Montecuccoli (Oberbefehlshaber der Kriegsmarine) und lauter Exellenzen – sss –

Der kaiserliche Rat: Was heißt Montecuccoli und Exellenzen? Und (der Aussenminister) Berchtold is e Hund? Gestern eigenhändig gratuliert!

Der alte Biach: Was heißt Berchtold? (Der Wiener Bürgermeister) Weiskirchner! Da haben Sie's vor Ihren Augen, was sagt man! Würde man das für meglich halten? Weiskirchner, der greßte Antisemit! Er gratuliert ihm »aufrichtigen Sinnes«. – Was steht da? Wirklich schön, wer schreibt das, »(als vierzehnjähriger Lnabe las ich begeistert die erste Ausgabe der Neuen Freien Presse. Seither bin ich alt geworden und die Welt hat die Überzeugung gewonnen, dass die) die Neue Freie Presse ist das Gebetbuch aller Gebildeten (ist)«.

Der Kompagnon: Das is aber ja wahr. – Was steht da? Intressant, die Firma Dukes freut sich mit ihr (der Neuen Freien Presse) in angenehmster Verbindung zu stehn. Die größte Annoncenfirma von Wien, (na) bitte!

Der Doktor: Schaun Sie her! Sogar (Maximilian) Harden, bekanntlich der glänzendste Stilist – was schreibt er, er nennt ihn, glänzend, hören Sie, wie er ihn nennt, »Generalstabschef des Geistes«!

Der Kurzwarenhändler: Betamt (schlau), aber nicht originell. Das is schon in ein paar Dutzend Zuschriften gestanden, es liegt auch wirklich nah, das zu sagen.

Der alte Biach: Selbstredend, gerade jetzt, wo dahinter gleich von (Kampf um) Lemberg die Rede is! Großartig waren auch die Ansprachen beim (Fest-)Bankett –

Der Kompagnon: Das war doch nicht beim Bankett, das Bankett war doch abgesagt wegen dem Weltkrieg.

Der kaiserliche Rat: Aus Bescheidenheit.

Der Kurzwarenhändler: Übertriebene Rücksicht.

Der alte Biach: Nuna! Also es war kein Essen, aber doch kolossal feierlich. Wenn kein Krieg wär, hätten Sie sehn sollen, was sich getan hätt. Aber sie haben sich's nicht nehmen lassen. Sehr schön war, wie sie ihn alle gefeiert haben (den Benedikt), der Vorstand der Buchhaltung und sogar die erste (Zeitungs-) Austrägerin. Das hat so etwas Familiäres, so ein Fest der Presse. Die Reden hab ich mir sagen lassen wern gleich mitstenographiert.

Der kaiserliche Rat: Aber der Stenograph gratuliert doch auch?

Der alte Biach: Ja, aber währenddem stenographiert er.

Der Kompagnon: Sehn Sie sich nur bittsie die Liste an, endlos –

Der Doktor: Ja, das ist traurig.

Der Kompagnon: Wieso traurig?

Der Doktor: Ach so, ich hab auf die Verlustliste geschaut unten, (was für) ein Zufall, daß das gleich nach den Gratulanten (Gratulationen) kommt.

Der alte Biach: Nebbich – was soll man machen, ja, ja, das ist und bleibt ein Ereignis, von dem noch die Kindeskinder reden wern.

Der kaiserliche Rat: Das is wahr, alle Tag wird ein Blatt (eine Zeitung) nicht fufzig Jahr.

Der alte Biach: Das geben Sie gut, ich hab gemeint – (die Schlacht um) Lemberg.

Der kaiserliche Rat: Wer redt (denn) von Lemberg?

Der Doktor (sich vorsichtig umblickend): Leider kann man nicht leugnen, daß es (der Verlust von Lemberg) gerade keine Ehre für uns ist.

Der alte Biach: Erlauben Sie – keine Ehre? Traun Sie sich nur, so etwas laut zu sagen!

Der Doktor (leise): No, ich mein', mit Lemberg –

Der alte Biach: Wer redt von Lemberg? Und wenn man schon wegen dem kleinmütig wird und verzagt, so richtet man sich auf an dem, was vorn (am Titelblatt) steht – am Jubiläum!

Der kaiserliche Rat: Wissen Sie was mir am meisten imponiert? Mir imponiert nicht was vorn (am Titelblatt) steht, mir imponiert nicht was in der Mitte steht, mir imponiert was (ganz) hinten steht! Erinnern Sie sich, am Jubiläumstag die hundert Seiten Bankannoncen, ganzseitig? Alle ham sie blechen müssen, mitten im Moratorium (Zahlungsaufschub), bis sie schwarz geworn sind! Ja, die Presse ist eine Macht, an der sich nicht rütteln läßt – wenn aber sie rüttelt, dann fallen die Zwetschken von den Bäumen.

Der alte Biach: Was wollen Sie haben, der Mann (Benedikt) hat eine Gewure (Energie) wie heut kein zweiter in Österreich. Er hat Phantasie und Gemüt und Geist und Gesinnung und is ein großer Nemmer vor dem Herrn.

Der kaiserliche Rat: Wissen Sie, Herr Biach, an wem mich erinnert in der Sprache, was Sie da jetzt gesagt haben?

Der alte Biach: An wem es erinnert? An wem soll es erinnern?

Der kaiserliche Rat: An ihm selbst (an Moritz Benedikt) mit die vielen »und«!

Der alte Biach: No und? Ist das ein Wunder? Man steht unwillkürlich unter (seinem) dem Bann! Ham Sie neilich gelesen im Abendblatt »Laienfragen und Laienantworten«? Gediegen, was? Besonders im Abendblatt is er ganz er selbst (der große Benedikt). Da wiederholt er alles von neuem. Wie es geheißen hat, »noch is Lemberg in unserem Besitze«, hat er gesagt, hier fällt uns vor allem das Wörtchen »noch« auf und das Auge bohrt sich herein und man kann sich vorstellen. Da gibt er immer alles und mit noch! – »Gestern wurde gemeldet – heute wird gemeldet« –, das bringt man (dann) nicht mehr aus dem Kopf. Er redet wie unsereins, nur noch deutlicher. Man weiß nicht, redt er wie wir – oder reden wir wie er.

Der kaiserliche Rat: No und der Leitartikel ise Hund? Schon der erste Satz – wer macht ihm das nach? – »Die Familie Brodsky ist eine der reichsten in Kiew.« – Fertig. Mitten drin is man. Dann springt er herum, redt von Talleyrand, was er gesagt hat beim Essen, und schon is man mitten drin im ungrischen Ausgleich.

Der alte Biach: Mir imponiert am meisten, wenn er sagt, »man kann sich vorstellen«. Oder wenn er mit der Einbildungskraft kommt, das bringt er packend, und da stellt man sich gleich alles vor, wie wenn er wär mitten drin im Pulverdampf gottbehüt – und wir alle mit ihm. Den größten Wert legt er aber, scheint es, auf die Stimmungen und auf die Eindrücke von die Details und packend is wenn er erzählt, wie sie die Leidenschaften aufgewiegelt haben. Ich für meinen Geschmack muß aber sagen, ich les am liebsten, wenn er sich vorstellt, wie sie sich schon unruhig wälzen bei Nacht, speziell (die Entente) Poincaré und (der englische Aussenminister) Grey und sogar der (russische) Czar, wenn sie von der Sorge benagt sind, weil es schon rieselt im Gemäuer. – »Und vielleicht ist in diesem Augenblick schon, und vielleicht haben sie schon und vielleicht und vielleicht... « – das is hochdramatisch! Ich hab mir sagen lassen, er diktiert, wenn er schreibt. Man kann sich (fast) vorstellen, wenn er so einen Leitartikel diktiert. Ich sag Ihnen, die Einbildungskraft schwelgt in der Vorstellung, daß, wenn er diktiert, die Kandelaber in der Redaktion (der Neuen Freien Presse) zittern!

Der Doktor: Zufällig weiß ich aber, weil ich einmal persönlich eine Beschwerde hinaufgetragen habe, über den (Artikel) »(Der) Mistbauer (Müllkutscher) und die Fliege« –

Der alte Biach: Was wissen Sie?

Der Doktor: Daß sie dort gar keine Kandelaber haben!

Der alte Biach (erregt): Was denn ham sie? Lassen Sie mich aus, Dokter, Sie sind ein bekannter Miesmacher – so ham sie Stehlampen! Tut nix – die Kandelaber zittern doch! Unsereins hat eben noch Illusionen. Marqueur (Kellner), bringen Sie die »Blochische Wochenschrift« und »Danzers Armeezeitung«!

Der Kompagnon: Moment! Jetzt – wenn man jetzt so hören könnte, was die Minister reden! –

(Alle lauschen. Der alte Biach rückt dicht an den Ministertisch vor.)

Der Ministerpräsident Stürckgh: Der »Pschütt« is heut wieder in einem Zustand, recht ärgerlich is das – anstatt daß die Marquör (Kellner) die Illustrierten einsperrn, tun sie's aufhängen – die möchten sich wirklich schon alle Freiheiten nehmen. Nachher krieg ich so ein Blatt(l) in einer Verfassung – aufheben wer' ich mir's nächstens lassen, das is das einfachste.

Der alte Biach (in größter Erregung): Wißts ihr, was ich jetzt gehört hab? Gotteswillen, ich hab ganz deutlich die Worte gehört: Standrecht, einsperrn, aufhängen –

Der Kompagnon: Sss ...!

Der alte Biach: Alle Freiheiten nehmen, Verfassung aufheben!

Der kaiserliche Rat: Also, da ham mas!

Der Doktor: Wissen Sie, daß das eine politische Sensation katexochen (schlechthin) ist und man kann wirklich sagen, aus erster Quelle!

Der alte Biach (stolz): Also was sagen Sie zu mir!

Der Kurzwarenhändler: Es ist Ihre Pflicht, es noch heute der Presse zu stecken!

Der alte Biach: Ja, die Zeiten sind ernst –

Der kaiserliche Rat: – und wer kann wissen was der kommende Tag bringt –

Der Kurzwarenhändler: – und der Staat hat die Verpflichtung, die Leidenschaften, wenn sie einmal aufgewiegelt sind, wieder einzudämmen –

Der Kompagnon: – und die Stimmungen sind wichtig –

Der Doktor: – und die Sorge wächst –

Der alte Biach: – und es is schon zehn Uhr und meine Rosa sitzt zuhaus und sie hat nicht gern, wenn ich spät komm und ich bin deshalb dafür wir zahlen und gehn.

(Der Zahlkellner kommt, sie gehn ab, indem sie sich alle noch einmal mit scheuer Neugierde nach dem Ministertisch umblicken.)

Der alte Biach (im Abgehen): Wir haben einen historischen Moment erlebt. Den ernsten Gesichtsausdruck vom Gesicht vom (unserem Ministerpräsidenten) Grafen Stürgkh werde ich mein Lebtag nicht vergessen!