1-26. Szene Südwestfront.
Ein Stützpunkt auf einer Höhe von mehr als 3500 Meter (Schalek 2)
Der Beobachter,
Kriegsberichterstatterin Alice Schalek, Tiroler Standschütze, Offizier,
Ordonnanz die den Tod Hofers meldet / Mitglieder des Kriegspressequartiers
Der Tisch ist mit Blumen und Trophäen geschmückt.
Der Beobachter:
Sie kommen schon!
Die Schalek (an
der Spitze einer Schar von Kriegsberichterstattern):
(Nein
— solch seltsame Bergtour habe ich noch nie gemacht. Sind das nicht
Orchesterklänge, die über den vereisten Hang
herüberquellen? Ein Berg im Schnee mit Granaten, Leichen und Militärmusik — eine sonderbarere Zusammenstellung findet sich wohl nicht leicht.
Während ich den reizvoll die Wände entlang wehenden Akkorden lausche, die vom
Lager kommen, höre ich die Meldung des Kadetten mit halbem Ohr, keuchend bringt
er's heraus, dass er mich Photographieren gesehen habe. „Wollen Sie nicht auch
den Toten aufnehmen, den wir soeben aus dem Schnee geschaufelt haben?“ Es ist
ein ganz einfacher Mann. Geradlinig ist sein Fühlen. Er findet es in der
Ordnung, daß diese „Fortschritte unserer Zivilisation" festgehalten
werden, damit auch die erfahren, wie es ihren Brüdern oben ergeht, für die sie
ihr Leben lassen. Wir steigen also wieder hinab. Die Schaufler haben die Leiche
schon nahezu bloßgelegt. Mehrere Männer sind damals von der Lawine verschüttet
worden. Ruhig stehen die Arbeiter um den Toten herum. Nur mir geht der Anblick
so nahe, dass mir die Kamera zittert. Sieben sind heute schon zu Tage gefördert
worden. Manchen deckt noch der Schnee unter unseren Füßen.)
Ich sehe, man hat
feierliche Vorbereitungen zu unserem Empfange getroffen. Blumen! Die sind wohl
den Herren Kollegen zugedacht, die Trophäen mir! Ich danke euch, meine Braven.
Wir sind bis zu diesem Stützpunkt vorgestoßen, es ist nicht viel, aber
immerhin. Man ist schon zufrieden, daß er wenigstens vom Feind eingesehen ist.
Meinen großen Wunsch, einen exponierten Punkt besuchen zu dürfen, konnte der Kommandant leider nicht erfüllen, weil das den
Feind aufregen könnte, sagt er.
Ein Standschütze (spuckt aus und sagt): Grüaß Gott.
Die Schalek:
Gott wie intressant. Wie gemalt sitzt er da, wenn er kein Lebenszeichen gäbe,
so müßte er von Defregger sein, was sag ich, von Egger-Lienz! Mir scheint, er
hängt sogar ein schlau verstohlenes Zwinkern ins Auge. Der einfache Mann, wie
er leibt und lebt! Laßt euch, ihr Braven, erzählen, was wir erlebt haben, bis
wir zu euch vorgedrungen sind. Also die sonst so belebte Talstraße gehört
unbestritten dem Kriegspressequartier. Oben auf dem Joch, da hab ich zum
erstenmal etwas wie Genugtuung gefühlt beim Anblick der Verwandlung eines
Dolomitenhotels in ein Militärquartier. Wo sind jetzt die geschminkten,
spitzenumwogten Signoras, wo ist der welsche (italienische) Hotelier? Spurlos verschwunden.
Ah, das tut wohl! Der Offizier, der uns geführt hat, hat eine Weile überlegt,
welche Spitze für uns wohl die geeignetste sei. Er schlug eine vor, die am
wenigsten beschossen wird, damit waren natürlich die Herren Kollegen
einverstanden, ich aber sagte: nein, da tu ich nicht mit; und so sind wir
schließlich hier heraufgekommen. Das ist doch das mindeste. Beantworten Sie mir
bitte jetzt nur die eine Frage: Wieso habe ich vor dem Kriege alle die
prächtigen Gestalten niemals gesehen, denen ich nun täglich begegne? (In der
Stadt gab es nur unscheinbare, kleinliche, selbstsüchtige Menschen, die jämmerlich
farblos waren. Hier wirkt jeder wahrlich sogar körperlich größer als daheim.) Der
einfache Mann ist einfach eine Sehenswürdigkeit! In der Stadt – Gott wie
fad! Hier ist jeder eine unvergeßliche Erscheinung. Wo ist der Offizier?
Der Offizier (von
innen): Beschäftigt.
Die Schalek:
Das macht nichts.
(Er erscheint. Sie beginnt ihm die Einzelheiten förmlich
aus dem herb verschlossenem Mund zu ziehen. Nachdem es geschehen ist, fragt
sie:)
Die Schalek:
Wo ist der Ausguck? Sie müssen doch einen Ausguck haben? Wo ich noch
hingekommen bin, war in dem Graben des Beobachters zwischen den Moosdeckungen
ein fünf Zentimeter breiter Ausguck für mich frei. Ach, hier ist er!
(Sie stellt sich zum Ausguck.)
Der Offizier (schreiend):
Ducken!
(Die Schalek duckt sich.)
Der Offizier:
Die drüben wissen ja nicht, wo wir Beobachter sitzen, ein Stück Nase kann uns
verraten.
(Die Schalek:
Daran kann ich mich am schwersten gewöhnen, daß man im Krieg den Begriff des
Schauens fortwährend mit dem des Gesehenwerdens zu verbinden hat. Nicht das
„Ich sehe“ sondern das „Ich werde gesehen“ muß jetzt im Bewußtsein vorangehen.
Man kann unter der Frontmannschaft mit Leichtigkeit
denjenigen als Neuling erkennen, der beim Anblick einer feindlichen Stellung
ans Schauen statt ans Verstecken denkt.)
(Die männlichen Mitglieder des
Kriegspressequartiers greifen nach ihren Taschentüchern und halten sie vor.)
Die Schalek (beiseite):
Feiglinge!
(Die Batterie beginnt zu arbeiten.)
Die Schalek:
Gott sei Dank, wir kommen gerade recht. Jetzt beginnt ein Schauspiel –
also jetzt sagen Sie mir Herr Leutnant, ob eines Künstlers Kunst spannender,
leidenschaftlicher dieses Schauspiel gestalten könnte. Jene, die daheim
bleiben, mögen unentwegt den Krieg die Schmach des Jahrhunderts nennen –
hab' ich's doch auch getan, solange ich im Hinterlande saß – jene, die
dabei sind, werden aber vom Fieber des Erlebens gepackt. Nicht wahr Herr
Leutnant, Sie stehen doch mitten im Krieg, geben Sie zu, manch einer von Ihnen
will gar nicht, daß er ende!
Der Offizier:
Nein, das will keiner. Darum will jeder, daß er ende.
(Man hört das Sausen von Geschossen:
Ssss – –)
Die Schalek:
Sss –! Das war eine Granate.
Der Offizier:
Nein, das war ein Schrapnell. Das wissen Sie nicht?
Die Schalek:
Es fällt Ihnen offenbar schwer, zu begreifen, daß für mich die Tonfarben noch
nicht auseinanderstreben. Aber ich habe in der Zeit, die ich draußen bin, schon
viel gelernt, ich werde auch das noch lernen. – Mir scheint, die
Vorstellung ist zu Ende. Wie schade! Es war erstklassig.
Der Offizier:
Sind Sie zufrieden?
Die Schalek:
Wieso zufrieden? Zufrieden ist gar kein Wort! (Schade, dass man das Land nicht
in diesem Zustand als Weltausstellung jedermann vorführen kann. Das Ganze ist
so grandios organisiert, so großzügig ausgedacht und angelegt und alles andere
ist so vollkommen aus diesem Territorium ausgeschaltet, daß der Beschauer die
bisherigen Kulturzwecke völlig vergißt und nichts empfindet als eine Art
diabolischen Genusses.) Nennt es Vaterlandsliebe, ihr Idealisten; Feindeshaß,
ihr Nationalen; nennt es Sport, ihr Modernen; Abenteuer, ihr Romantiker; nennt
es Wonne der Kraft, ihr Seelenkenner – ich nenne es frei gewordenes
Menschentum.
Der Offizier:
Wie nennen Sie es?
Die Schalek:
Frei gewordenes Menschentum.
Der Offizier:
Ja wissen Sie, wenn man nur wenigstens alle heiligen Zeiten einmal einen Urlaub
bekäme!
Die Schalek: Aber dafür sind Sie doch durch die stündliche
Todesgefahr entschädigt, da erlebt man doch was! Wissen Sie, was mich am
meisten intressiert? Was denken Sie sich, was für Empfindungen haben Sie? Es
ist erstaunlich, wie leicht die Männer auf dritthalbtausend Meter Höhe nicht
nur ohne die Hilfe von uns Frauen, sondern auch ohne uns selbst fertig werden.
(Kochen, Putzen, Ordnung halten, für die Jüngeren sorgen und treu füreinander
einstehen — das alles geht tadellos auch ohne uns. Und bringt es nicht am
Ende die Abwesenheit der Frauen mit sich, daß diese Männer sich untereinander
so freundschaftlich, so brüderlich, so friedlich geben?)
Eine Ordonnanz (kommt):
Melde gehorsamst, Herr Leutnant, Zugsführer Hofer ist tot.
Die Schalek:
Wie einfach der einfache Mann das meldet! Er ist blaß wie ein weißes Tuch.
Nennt es Vaterlandsliebe, Feindeshaß, Sport, Abenteuer oder Wonne der Kraft
– ich nenne es frei gewordenes Menschentum.
Ich bin vom Fieber des
Erlebens gepackt! Herr Leutnant, also sagen Sie, was denken Sie sich jetzt, was
für Empfindungen haben Sie?
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