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Karl Kraus’ Monsterdrama
»Die letzten Tage der Menschheit«

Albin Egger Lienz: Den Namenlosen

Die Zerstörungswut des Ersten Weltkriegs ging mit einer Entfesselung der ästhetischen Formen einher. Einer, dem es gelang, die Sprache der Dummheit und Bosheit in ihrer dämonischen Melange zu fassen, war der Wiener Karl Kraus – in seinem grotesk-apokalyptischen Drama «Die letzten Tage der Menschheit».

Er konnte es auch in einem einzigen Satz sagen. Wer diesen einmal kennt, muss an ihn denken, sobald wieder irgendwo das grosse Töten beginnt – gegenwärtig also mehrmals im Jahr. Er lautet: «Krieg ist zuerst die Hoffnung, dass es einem besser gehen wird, hierauf die Erwartung, dass es dem andern schlechter gehen wird, dann die Genugtuung, dass es dem andern auch nicht besser geht, und hernach die Überraschung, dass es beiden schlechter geht.» Das hört sich einfach an, entspringt aber einem unheimlichen Scharfsinn für die kollektive Psychologie. Und der diesen Scharfsinn besass, hat uns die Wahrheit des Satzes auch in einem Schauspiel von 770 Seiten vor Augen geführt. Es heisst «Die letzten Tage der Menschheit» und reisst die Leser erbarmungslos in die unmittelbarste Wirklichkeit des Ersten Weltkriegs hinein. Diese besteht aber nicht nur aus den Schützengräben, dem Massensterben in Stacheldraht und Gaswolken, den Millionen von Verstümmelten und den neuen Waffen, die das arme Menschenfleisch aus immer grösserer Distanz zerfetzten, sie besteht ebenso aus dem Alltag zu Hause, in den Dörfern und Städten, auf den Boulevards von Wien und Berlin. Was dort geschah, dort geschwatzt, geschrieben und gelesen wurde, das hing mit jenem Sterben untrennbar zusammen. Kein Historiker hat den kausalen Konnex zwischen einem Kaffeehausgespräch und dem Verenden im Sturmangriff jemals so zwingend aufgedeckt.

Wir hören das Unheil. Geschult am Wiener Vorstadttheater, das immer schon alle Schichten der Gesellschaft im Originalton auf die Bühne brachte, gelingt es Karl Kraus, den furchtbaren Krieg als sprachliches Ereignis zu vergegenwärtigen. Die nationalistische Prahlerei, der alltägliche Rassismus, die Lügen über Ursachen und Verlauf des Geschehens, die Korruption bei der Aushebung der Frontkämpfer, die brutale Herrschaft der Offiziere, die Verachtung für die bettelnden Blinden und Amputierten, die Selbstbetäubung in billigen Operetten und schliesslich die Kriegsgewinnler, die immer reicher werden, je schlechter es den Menschen geht: Das ganze Spektakel der menschlichen Mikrobosheit braust uns in Sprachfetzen, Wortwechseln und Tiraden um die Ohren. Das ist von schreiender Komik, weil die Lügen und Heucheleien sich immerzu selbst entlarven. Sie tun dies zwar in Nestroys Stücken auch, aber dort geht es um Geld und Liebe in einer soliden sozialen Ordnung, hier jedoch sehen wir den eigenhändig veranstalteten Ruin einer satten Gesellschaft und ihres prachtvollen politischen Systems. Man lacht und fürchtet zu ersticken.

Dass Krieg und Propaganda zusammengehören wie Kopf und Zahl einer Münze, ist bekannt. Es zeigt sich jeweils am deutlichsten beim Beginn der militärischen Operationen. Und dass die Propaganda zusammenfällt mit der Manipulation aller populären Medien, weiss man auch seit je. Aber wie diese Propaganda einsickert in die einzelnen Gehirne und von da wieder auf die Zungen kommt, wie sie sich vernetzt mit dem Egoismus des Einzelnen und ihm zur Kaschierung seiner kleinen Schuftereien dienen kann, das steht nicht in den politischen Analysen. Hierzu braucht es den literarischen Blick, der das Detail vor dem Ganzen sieht, dafür aber auch dieses Ganze im Detail aufleuchten lässt wie die Sonne in einer Glasscherbe. Kraus besass die Fähigkeit, die feinsten Symptome des Unheils zu sehen und zu hören. Im Vorwort zu den «Letzten Tagen» steht der berühmte Satz: «Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.» Die Kunst dieses singulären Werks besteht also darin, das Gehörte, Gelesene, Aufgeschnappte oder an entlegenen Stellen Entdeckte so in konkrete Situationen einzubetten, dass wir zu Augenzeugen werden.

Abkehr vom Abbildrealismus
Im Erfinden solcher Szenen ist Kraus unerschöpflich. Sie können realistisch sein wie in einem Kriegsfilm oder theatermässig wie in einem Nestroy-Stück; es gibt aber auch eine Skala der Steigerungen ins Schräge, Groteske, ungeheuerlich Monströse. In diesen Spielformen einer wilden Komik rückt das Werk neben die Bilder, die Otto Dix und George Grosz zur gleichen Zeit gemalt haben. Auch sie versuchten, die Realität der Schlachten an der Somme und am Isonzo zusammenzusehen mit dem Gesellschaftsspektakel auf dem Kurfürstendamm. Auch ihnen schien die Wahrheit dessen, was geschah, nur noch in der grausigen Karikatur vermittelbar.

Diese künstlerische Not ist ein bis heute nicht gelöstes Problem der Moderne. Dürrenmatt hat es nach dem Zweiten Weltkrieg erneut zur Debatte gestellt. Auch er war überzeugt, dass ein sachlicher Abbildrealismus den apokalyptischen Dimensionen des 20. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen sei und es der schrillen Dissonanz des Komischen bedürfe, um eine Ahnung von dem zu vermitteln, was tatsächlich der Fall war. Es erfordert allerdings eine unerhörte Kunst, um dabei nicht das Gegenteil zu erreichen: die Verharmlosung im Kichern.

Als man sich an Dürrenmatt gewöhnt hatte, trat dies nicht selten ein. Man muss zurückgehen bis zu den Kritiken und Publikumsreaktionen auf Dürrenmatts Erstling «Es steht geschrieben», um eine Ahnung zu gewinnen vom ursprünglichen Schock seiner Ästhetik. Und so ist es denn aufschlussreich, dass Karl Kraus schon in den ersten Sätzen seines Vorworts genau diese Frage stellt: ob es gestattet sei, mit komischen Verfahren auf eine furchtbare Wirklichkeit zu antworten. Schlüssig beantworten kann er sie nicht. Sein Versuch wirkt fast sophistisch: «Der Humor ist nur der Selbstvorwurf eines, der nicht wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, mit heilem Hirn die Zeugenschaft dieser Zeitdinge bestanden zu haben.» Aber gerade in der Mühe, die ihm der Satz macht, steckt seine Ehrlichkeit. Ein Künstler muss die Dilemmata seiner Kunst nicht theoretisch lösen können. Er muss schaffen, was anders nicht zu machen ist, und notfalls mit dem schlechten Gewissen leben. Im Übrigen aber findet sich diese verzweifelte Komik nicht nur bei den Zeitgenossen Grosz und Dix, sondern schon bei Goya und Grimmelshausen und Shakespeare.

Neben den Varianten des Komischen zitiert Karl Kraus einen wahren Tumult anderer literarischer Formen herbei. Da ist der philosophische Dialog, bei dem er selbst unter dem Namen «der Nörgler» auf die Bühne tritt und mit seinem Partner, dem «Optimisten», das Weltgeschehen bespricht. Da ist die grosse Rede, rhetorisch durchstilisiert, die 54. Szene des V. Aktes, über zwölf Seiten hin ein Auftritt von antiker Gewalt, unheimlich auch im Stolz dessen, der sich zum Zeugen und Richter berufen weiss. Da sind die ganz kurzen Szenen, in denen das Leiden eines der Millionen Kriegsopfer eine Sekunde lang sichtbar wird und unvergesslich bleibt. Da werden die Journalisten vorgeführt, und wir hören, wie sie die offiziellen Parolen vertausendfachen und in alle Köpfe treiben. Da gibt es wiederkehrende Figuren wie die Kriegsberichterstatterin Alice Schalek, die sich in die vordersten Frontlinien drängt und darüber ihre patriotische Prosa absondert. Da gibt es reine Kabarett-Szenen wie die Begegnung zwischen Ludwig Ganghofer und Wilhelm II. im Felde, die sich als abstruse Erfindung ausnimmt, aber historisch dokumentiert ist. Und immer neu taucht, gleich einem Refrain, das Strassenleben auf, insbesondere auf der Wiener Flanierstrecke am Opernring, wo das Stimmengewirr gelegentlich zur abstrakten Lautkomposition wird – ein Echo dessen, was die Dadaisten damals trieben.

Das Akustische ist immer Gegenwart. Keiner unserer Sinne nimmt so sehr die reine Präsenz wahr. Indem Kraus aus dem Weltkrieg ein akustisches Ereignis macht, vermittelt er den heutigen Lesern die Erfahrung eines ungefilterten Dabeiseins. Sie dürfte sogar stärker sein, als wenn wir Filmaufnahmen vom Grabenkrieg sehen. Was auf uns zufährt, sind die Naturtöne einer Zeit, die Europa auf immer verändert hat, Naturtöne des Hasses, des Stolzes, der Prahlerei, der Borniertheit und Verleumdung, aber auch der Klage, der Liebe und einer namenlosen Trauer.

Hass und Wiederholungszwang
Nicht zuletzt aber des Denkens. Der dies alles veranstaltet, ist nämlich auch Analytiker. Wiederholt fallen Sätze, in denen die wahren Antriebe hinter dem Krieg benannt werden. Zum Beispiel, dass er auch ein grosses Geschäft war. So sagt einmal ein Kriegsgewinnler, auf einer Fahrt ins Engadin übrigens, zu seinem Kollegen: «Wer in diesem Kriege nicht reich wird, verdient nicht, ihn zu erleben.» Dann beschliesst man, das gewonnene Geld in Gemälden anzulegen.

Das Werk hat eine prophetische Dimension. Karl Kraus quält der Gedanke, dass das Entsetzliche dieser Jahre wieder vergessen werden kann. Dagegen schreibt er an. Ohne Hoffnung allerdings. Weil der Hass in den Seelen wurzelt, Seite an Seite mit der Dummheit, wird ihn der Friede nicht beseitigen. Man wird vergessen, um wieder losschlagen zu können. Als der «Optimist» sich auf den Frieden freut, antwortet der «Nörgler»: «Alles was gestern war, wird man vergessen haben; was heute ist, nicht sehen; was morgen kommt, nicht fürchten. Man wird vergessen haben, dass man den Krieg verloren, vergessen haben, dass man ihn begonnen, vergessen, dass man ihn geführt hat. Darum wird er nicht aufhören.» So geschah es. Zwanzig Jahre nach Kriegsende stimmte Österreich dem Anschluss an das Hitlerreich mehrheitlich zu. Ein Jahr darauf wurde wieder losgeschlagen.